Christine Leins

Zeichnung und Malerei


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Wolfram Morath-Vogel, Helen Adkins (2010): Den Anfang zeichnen: Christine Leins | Arbeiten auf Papier. Ausstellung im Angermuseum Erfurt.

ISBN: 978-3-930013-15-0

ChristineLeins_Katalog_Saarbrücken

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Saarländisches Künstlerhaus (2008): Christine Leins | Arbeiten auf Papier.

ISBN: 978-3-940517-08-1

Linie | Poesie
Christine Leins im Interview mit Fenna Wehlau



Christine, seit wann zeichnest Du und was treibt Dich an?

Zeichnen fasziniert mich seit ich einen Stift halten kann. Seitdem begleitet sie mich auch. Einen großen Teil meines Lebens verbringe ich seit jeher zeichnend, eigentlich seit dem Kindergartenalter (lacht). Ich freue mich daran, beobachten zu können, wie die Zeichnung sich im Laufe der Zeit immer wieder verwandelt und ihre eigene Entwicklung genommen hat. Der Umgang mit der Zeichnung macht mich optimistisch und froh. Da bin ich in meinem Element. Wie ein Fisch im Wasser – wie man so schön sagt.
Die Zeichnung ist da, aber sie gehört mir nicht. Sie ist ein Geschenk, Lehrerin, Freundin, Begleiterin. Meine Lebenszeit und die Zeichnung fließen zusammen. Die Zeichnung erfüllt meine Zeit, nahezu täglich.
Ein chinesisches Sprichwort besagt: Ein Vogel singt nicht, weil er die Antwort weiß, sondern weil er ein Lied hat. Die Zeichnung hat in diesem Sinne ein Lied. Sie ist Melodie, Rhythmus, Lebendigkeit. Ein Vogel singt auch, wenn er nicht gehört wird.

Wo entstehen Deine Zeichnungen?

Das Umfeld ist nicht so wichtig. Ich kann fast überall zeichnen. Eigentlich brauche ich kein Atelier, ein kleiner Tisch würde mir genügen. Mich freut die Unkompliziertheit und Unmittelbarkeit der Zeichnung, die ohne große Hilfsmittel auskommt.

Wie können wir uns Deinen Arbeitsprozess vorstellen?

Ich brauche ein weißes Blatt und Stift, Pinsel, Feder, mit denen feinste Bewegungen der Hand übertragen werden können, wie bei einem Seismographen. Die schöpferische Kraft bringt die Hand zum Schwingen. Dieser traue ich. Die Zeichnung gibt sich mir und ich gebe mich der Zeichnung. Wenn die Zeichnung fertig ist, lässt sie mich dies erkennen und ich lege die Stifte zur Seite. „Das Schöne ist das, was man nicht verändern will“ sagt Simone Weil. Manchmal dauert es Stunden, manchmal Wochen, bis ein Blatt so vollendet ist.

Ist Zeichnen mühevoll für Dich?

Nein, die Zeichnung fließt. Ich muss sie nicht „machen“. Sie ist mir Stifterin von Lebenslust. Ich gehe eine freiwillige Beziehung mit ihr ein, die ich selbst gewählt habe. Zeichnung ist etwas sehr Intimes für mich. Sie braucht Zeit, Stille und Empfindsamkeit. Die Zeichnung ist verlässlich. Immer einmalig. Nicht ich mache die Zeichnung, möchte ich sagen, das Leben macht die Zeichnung. Ich kann die Zeichnung auch nicht einfordern, sie wächst. Ich zensiere die Zeichnung nicht, ich lasse sie laufen, fließen, hüpfen, tanzen - was immer sie gerade vor hat.

Lassen sich Deine Zeichnungen umschreiben als écriture automatique?

Nein. Die Zeichnung braucht Regelmäßigkeit, Freiheit und Leichtigkeit. Die Zeichnung spiegelt nicht meine Gefühlslage wieder, sie ist autonom. Sie entsteht auch nicht etwa unter Trance, Hypnose oder Drogeneinfluss. Ich meine, mittels der écriture automatique wurden andere „Geister gerufen“ als die schöpferische Kraft, die meine Zeichnungen entstehen lässt. Aber richtig ist: Die Zeichnung wächst, wenn die Bilder zerbrechen, die ich mir von ihr gemacht habe. Zeichnen bedeutet mir das Loslassen von Erwartungen, Vorstellungen und Besitzansprüchen. Zeichnen ist das Gegenteil von Nützlichkeit. Die Zeichnung ist vielmehr eine Spur von Schönheit in der Welt.

Ist Zeichnen für Dich Flucht aus der Realität?

Nein, Zeichnen ist eine Form des Tuns und Tätigseins. Die schöpferische Kraft dahinter wird erst im Vollziehen des Zeichnens sichtbar. Die Zeichnung, die so entsteht, trägt verrätselte Züge, sie bleibt ein Wunder für mich.

In welcher Tradition siehst Du Deine Zeichnungen?

Ganz einfach: In der Tradition all derer, die um der Zeichnung willen ein Zeichengerät in Bewegung gesetzt haben.

Mit welchen vier Künstlern hättest Du gerne ein Atelier geteilt?

Mit Agnes Martin, Emma Kunz, Guo Fengyi, Sophie Taeuber-Arp, wäre ich gerne befreundet gewesen, weil ich meine, dass sie in Kontakt mit dieser schöpferischen Kraft waren, ihre Quellen in ihr fanden.

Zeichnen Frauen anders als Männer?

Oft versuchen Frauen wie Männer zu zeichnen. Eine schwierige Frage: Was ist typisch? Frauen, Künstlerinnen, sind eher bereit zu empfangen, sich von ihrer Intuition leiten zu lassen, haben ein Gespür dafür, dass auch die Seele Nahrung braucht und finden heraus, welche Nahrung dies sein könnte. Frauen hatten von jeher, man denke an die Musen der Antike, einen besonderen Bezug zur Schönheit und zeigen eine liebende und bewahrende Haltung allem Lebendigen gegenüber.
Im praktischen Leben werden diese Eigenschaften gerne goutiert, als Wesenzüge bzw. Zugänge zum eigenen Leben aber eher ignoriert oder gar belächelt. In die Kunstwelt, oder besser gesagt, auf den Kunstmarkt übertragen, erfährt die kraftvolle Geste oft eine deutlich größere Wertschätzung als die leisen Töne. Künstlerinnen sind bislang eher in dem Maße erfolgreich, wie sie sich von der Kunst ihrer männlichen Kollegen nicht unterscheiden. Hierzu ein provokatives Zitat von Romano Guardini: „Die Welt geht am Maskulinen zugrunde, buchstäblich“.

Welchen Weg ist Deine Zeichnung gegangen?

Die frühen gegenständlichen Arbeiten waren der Dingwelt verhaftet. Unter dem Binokular entstanden minutiöse Studien gebrochener Fliegenkörper und anderer Insekten. Seit 1994 entwickelte ich meine Technik der Punktlasur, die zum charakteristischen Kennzeichen beinahe aller Werkphasen wurde. Die seit 1999 entstandenen Stilleben werden ab 2004 abgelöst durch FarbLichtFlächen, handtellergroß. Seit 2008 zeichne ich „Innere Bilder“, geformt aus Punkt- und Linienrhythmen, zunächst noch verhalten in ihrer Farbigkeit. Das Angermuseum Erfurt widmete 2011 dieser Tuschfederzeit eine Einzelausstellung und ein Katalogbuch („Den Anfang zeichnen“). Es folgten Jahre des zurückgezogenen Zeichnens. Die Zeichnung aber floss ohne Unterlass.

In dieser Zurückgezogenheit hast Du Dein graphisches Werk kontinuierlich weiterentwickelt, die farbige Zeichnung, organische Formen, die Linie und aktuell wieder die Punktlasur waren Themen der letzten Jahre.

Stimmt, die Zeichnung ist ihren Weg beständig weiter gegangen. Dabei hat sich das Spektrum ihrer Techniken verbreitert: Arbeiten in Buntstift oder Eitempera kamen z.B. hinzu, ebenso nahm die Mischtechnik einen breiten Raum ein. Einzelne Zeichnungen entstehen nun auch auf größeren Formaten von bis zu 9 m Länge. In den letzten Jahren trat die Punktlasur wieder stärker in den Vordergrund, wobei die Variationen der Tonwerte einer Farbe ein zentrales Thema bildete. Im Rückblick nimmt die Zeichnung über die Jahre einen spiralförmigen Verlauf. So kehrt sie wieder und wieder zu Themen zurück, die in der Vergangenheit behandelt wurden und begegnet diesen auf gleichsam anderer Ebene neu.

© Fenna Wehlau & Christine Leins (2019)

Soul Train | Positionen der Zeichnung 
Hans-Peter Miksch

Die Aquarelle von Christine Leins sind kleine Wunderwerke, bei denen der Eindruck sich aufdrängt, die Farbe würde aus dem Blatt heraus pulsieren. Jeder Gestus, jede Spur einer Handschrift sind sorgfältig vermieden. Die Künstlerin, ausgebildet als wissenschaftliche Zeichnerin, hat jahrelang vor allem mit dem Stereomikroskop Insektenkörper gezeichnet und aquarelliert. Das quasi Hingehauchte und ätherisch Opake der sogenannten Punktlasuren (als Aquarelle mit einer einzigen Farbe, oder mit Tusche und Bister) von Christine Leins lässt den Besucher im Atelier vor den ungeschützten Blättern regelrecht zurückschrecken, Wolfram Morath-Vogel benutzt den Begriff „intangibel“. Ein strahlendes, vollkommen lautloses Pulsieren scheint aus diesen Blättern zu kommen, die, wenn überhaupt an etwas, dann an zarte, sommerliche Farbschatten erinnern. Die „wattigen Punkte“ (A. M. Opel) verführen zu Metaphern wie der, es handele sich wie um ein Sehen mit geschlossenen Augen (Morath-Vogel), oder um Zeichnungen wie aus dem Nichts und konnotationslos, also so, als habe sich die Zeichnung selbst gezeichnet. Jegliche Handschriftlichkeit ist vermieden. Die Künstlerin stellt fest, dass es sich dabei um Formen handelt, die sich nicht mehr der sichtbaren Welt verdanken, dass sie Strukturen schafft, die das Licht förmlich einschließen.

© Hans-Peter Miksch (2011)

Der innehaltende Blick
Beim Betrachten der Zeichnungen von Christine Leins
Wolfram Morath-Vogel



Vorbemerkung

Den Anfang denken können wir nicht. Er liegt in unzugänglichem Dunkel, in unzugänglichem Licht. Die wahren Anfänge bleiben unsichtbar, sind nicht zu bezeichnen. Für sie wie für den Ursprung des schöpferischen Einfalls gilt, was Novalis im Aufgang der Frühromantik, erfüllt vom Wissen um die Ironie des 'unendlichen Bewußtseins', lakonisch notierte: "zu zart, um gedacht zu werden"[1]. Warum? Weil auch das Denken, das Zugreifen der Begriffe, dem jeder Begrifflichkeit Vorausliegenden, begrifflos Reinen, nie würde nähertreten können, ohne ihm Gewalt anzutun und es eben damit - zu verlieren. Begreifen und Zerstören wären eins; wären jenen Untersuchungen ähnlich, bei denen schon das Anlegen der Instrumente, respektive der Begriffe, die Meßdaten verändert. Die Undenkbarkeit sichert des Anfangs bleibende Verborgenheit.

Den Anfang zeichnen? Solchem Anliegen müßte, formal gesprochen, ein Entzeichnen - wenn überhaupt - mehr als ein Bezeichnen entsprechen können: ein Loslassen aller Abbilder. Der Anfang bleibt Metaphysik. Er kann nicht objektives Thema werden der formsuchenden und formgebenden Phantasie. Aber seine Verborgenheit kann, paradox genug, die formative Unruhe stiften, die zu sinnlich wahrnehmbaren Gebilden treibt, deren tragender Abgrund er ist: „Unsichtbare Harmonie stärker als sichtbare (Heraklit). Wer auf das hin die Erscheinung transparent zu halten vermag, dem öffnet sich der unausschaubare Zauber des von weit her Kommens - die Anfangsverbundenheit.

Konturlose Punktschatten, lichthaftes Dunkel

"Der Punkt bedeutet mir die Möglichkeit, das Blatt zeichnerisch behutsam und vorsichtig zu berühren." Christine Leins' Umgang mit den Mitteln ihrer Arbeit ist von Anfang an feinnervig reflektierend, jederzeit abwägungsbereit, zögerlich bedacht. Tachismus als Attitüde, als eruptiver Va-banque-Einsatz, als Kraftmeierei und Trefferglück liegt ihr fern. Sie ist Meisterin der kaum noch wägbaren Gewichtsverschiebungen, der bis zur Ununterscheidbarkeit angenäherten Nuancen, sie hört das lautlose Zittern des Espenlaubs. Keine emphatisch vorgetragene 'Unmittelbarkeit', kein lärmender vitaler Ausbruch, keine gestisch vorgetragene Improvisation. Erst recht kein: So zeichne ich. Aber auch kein feststellendes, bloß denotatives Sehen, kein: So ist es. Was entsteht, bleibt unvordenklich, bringt bislang Ungesehenes ans Licht. Wie geschieht das?

Für ihr gesamtes Werk bestimmend wurde die Technik der Punktlasur, in der unzählige übereinander gelagerte Schichten transparenter Punkte die Form konstituieren [2]. Paradoxie des Punktes: Gemäß der Definition Hegels als „Nichts des Raumes ist der Punkt, begrifflich rigoros aufgefaßt, gestaltlos, von aller Sinnlichkeit auf ewig geschieden. Eben dadurch kann er zur Metapher werden - zur Metapher der Verborgenheit des Anfangs. Von hier aus gewinnt der prima vista befremdlich anmutende Titel der ersten musealen Präsentation dieser so eigen gearteten Zeichnerin seine Berechtigung aus der Formulierung der Zeichnungen selbst, ihrer besonderen Phänomenalität. Natürlich ist der Punkt im hegelschen Sinne weder Mittel noch Gegenstand des Zeichnens, kann es nicht sein. Es liegt im Begriff des Punktes, daß von seiner Verkörperung nur ironisch zu handeln ist. Was wir sehen, sind als „Punkte nur gedeutete Flecken, wenn man will: Aureolen des Punkthaften. Die Zeichnerin selber hat Aureolen, die sich um konzentrisch wie Sternenhaufen ergebende, systemisch angeordnete, mit spitzem Pinsel punktierte Areale bilden, in 2008 entstandenen Zeichnungen, etwa als „Kugelberg [3], ausdrücklich dargestellt. Sie spüren der Frage nach, wie aus dem Chaos der Impulse Ordnung entsteht (die sich in der Kunst wie in der Schöpfung allemal stärker erweist als das Chaos). Die Form wird nicht umrissen, ist nichts Festgelegtes, wie sie auch kein Feststehendes ist. Sie baut sich auf. Im Aufbau bleibt der anschauliche Rückbezug erhalten auf die Ungesichertheit des reinen Beginnens. Das aber bezeichnet keinen Mangel, erst recht keinen der Technik und des Könnens, vielmehr betrifft es den Sachgehalt der zeichnerischen Konzeption. Ihr gestalterischer Ausdruck ist, unter anderem, die Verfransung der aus Punkt-Atomen erwachsenen Makroform. Sie bleibt - auch als dem Quadrat angenähertes Viereck, als kreisförmige oder ovaloide Formation - konturlos. Jede dieser Zeichnungen ist von einer angenommenen Mitte her angelegt, die anschaulich wirksam bleibt als 'Quellpunkt' der Formung. Das vertrüge keine konturierende Definition. Der 'Kontur' der gezeigten 'Dinge' bleibt konjektural. Die Zeichnerin meidet sein Feststellendes, sie behandelt ihn mehr als Ahnung denn als Gegebenheit. Das Sich-Verwirklichen der aus soviel Punktatomen auftauchenden, empfindlichen Form und deren 'Vermöglichung' im Unausgesprochenen verharren genau in der Waage.

Dabei wird die quadratische Form (seit 2004) wohl am besten dem ruhigen, emanativen Charakter der aus einer Summe von Impulsen leise sich aufbauenden, allmählich sich stabilisierenden Form gerecht [4]. Das Gleichmaß des gleichseitigen Gevierts forciert nichts. Weder begünstigt es die Aktualisierung der Tiefenräumlichkeit (wie dies bei entschiedenen Hochformaten leicht sich einstellt) noch leistet es einem erzählerischen Duktus Vorschub, wie er gestreckten Querformaten oft eigen ist. Die quadratische ist die Form der größtmöglichen Zeitstille. Dem „Nichts des Raumes korrespondiert intentional das Nichts der Zeit, die ewige Ruhe des Anfangs. Christine Leins hat sich den dadurch möglichen Erscheinungscharakteren seriell genähert; doch es wäre verkehrt, schon deshalb Albers' Homages to the Square als Kronzeugen ihrer Kunst anzurufen. In einem Punkt jedoch, obgleich von ganz verschiedenen Voraussetzungen her entwickelt, ist die phänomenale Nähe konkludent: Die spezifische Erscheinungsenergie in den Resultaten der bildlichen Konzeptionen beider hat im Simultankontrast, der selber eine Funktion des Figur-Grund-Verhältnisses ist, einen nie versagenden Motor.

Die Überstrahlung der Ränder erzeugt eine Art optisches Magnetfeld, eine nicht physisch, sondern physiologisch begründete Luzidität, die das Gemachtsein der Zeichnung vollends ins Immaterielle, ins Intangible übersteigt. Die quadratartige und insofern strenge (doch nie streng quadratische) Form des Gebildes scheint aus den Pulsationen eines dunklen Nukleus entstanden zu sein, dessen amöbenhafte, durch keinerlei Konturierung beeinträchtigte Wandlungsfähigkeit anschaulich erhalten bleibt. Dies transitorische Ineinanderwirken von Licht und Stoff wird zum anschaulichen Äquivalent eines semantisch bedeutsamen Entstehungszusammenhangs, der das leiseste aller Dramen: das Beginnen, unmerklich vor Augen stellt. Wieder stoßen wir auf die oben bemerkte Anfangsverbundenheit. Das Auge unternimmt, mit Francis Ponge zu reden, eine „Reise in die Dichte der Dinge [5 ].

Vom Motiv zum Bild

Das Verhältnis der zeichnerisch gewonnenen Form zum Blattformat im Ganzen bleibt zunächst unbestimmt. Der „Blattraum" [6] wird nur langsam erobert. Am Anfang dieses zeichnerischen Werks steht die entschiedene Orientierung auf das Motivische, die Erkundung der Dinge. Zunächst am isolierten Objekt - wie der prachtvollen Blut-Zikade (1994) - dann in der Erweiterung auf ganze Stilleben, die mit überlieferten Bildmustern korrespondieren, auf die Ordnung der Dinge. Die Krise des ersten Ansatzes erfolgt im zunehmenden Innewerden dessen, "was mich eigentlich interessiert: Struktur, Licht, Schichtung und Verdichtung, Transparenz" [7]. Ein Übersteigen der Dinge, das ihnen gleichwohl die Treue hält, findet Christine Leins bei Morandi, dessen Werk sie 1993 näher kennenlernt; Antonio Calderaras Bildverdchtung bestärkt den Nuancenreichtum des allmählichen Verschwindens von Dinghaftigkeit. 2004 begegnet die Zeichnerin den einsamen Blättern Gerhard Altenbourgs; es ist ein Jahr der Zäsur. Vielleicht darf man sagen, die Linie von Morandi über Calderara zu Altenbourg bezeichne eine künstlerische Bewegungsrichtung der Christine Leins – freilich nur eine Richtung, nicht das Ziel. In der jüngsten Entwicklung kommt – ob bewußt oder nicht, mag hier offen bleiben - ein anderer bedeutsamer Gesprächspartner ins Spiel: Max Weiler (1910 – 2001) als Zeichner. Beide verbindet, kurz gesagt, die gestaltende Einsichtnahme in einen Weltzusammenhang, der Natur, Bildlichkeit, Subjektivität und Spiritualität in sich zusammenfaßt.

Mit den seit 2004 entstehenden abstrakten Zeichnungen fühle ich mich der Dingwelt weiterhin verbunden [8]. Diese fortgesetzte Verbundenheit geht als Qualität ein in ein denotationsloses Sehen; gleichsam ein Sehen mit geschlossenen Augen. Mit der écriture automatique der Surrealisten hat das weniger zu tun als mit der bekannten Forderung C. D. Friedrichs, das Auge zu schließen um zu erfahren, was einer, der als Künstler Anspruch auf Weltdeutung erheben will, denn in sich sieht, wo das retinale Sehen endet. Das Drehen der Blätter beim Zeichnen reflektiert beides, Ortlosigkeit und Ubiquität, unterläuft die Bedingtheit des Standpunkts. Die Exerzitien des Auges lassen, paradox genug, Verkörperung und Entleiblichung als ein und denselben Vorgang faßbar werden. In diesem Bezugsrahmen erfährt das Figur-Grund-Verhältnis eine Wandlung, wächst ins Bildhafte. In den Simultankontrasten, die das inmitten der zur Quadratform expandierenden Punktmyriaden zur Ruhe gebrachte Auge erfährt, macht zunächst die Lichthaltigkeit des Grundes diesen zum Mitspieler; Figur und Grund bleiben noch zweierlei. Der Austausch beider nimmt zu in dem Maß, in dem der Blattgrund als 'Matrix' des Erscheinenden aktiv aufgefaßt wird.

„Unsichtbare Harmonie stärker als sichtbare

Dabei bleibt die Spannung zwischen der Form und den Hintergründen des Ich spezifisch gering; die Künstlerin spricht ausdrücklich von Selbstzurücknahme. Sie illustriert keine Befindlichkeiten, seziert weder die Träume noch die Traumata des gesellschaftlichen Gesamtkörpers. Aber sie hält Zwiesprache, steht in Kontakt mit Gegebenem, das sie bejaht. Affirmation ist ein Grundzug dieser aus dem Staunen über die Dinge geborenen Kunst. Zur Kernfigur Ihres Schaffens gehört die Analogie von Zeichnen und geistiger Bewegtheit. Von der Zartheit des Anfangs und des Anfangens in den Zeichnungen von Christine Leins war andeutungsweise die Rede. Daß der Grund der Dinge Geist ist, bildet die Fundamentalannahme ihrer Arbeit.

Anmerkungen:

1) Blüthenstaub (1798), Fragment 23, in: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk, München Wien (Carl Hanser) 1978, p. 237.
2) Angela Maria Opel, „Reduktion und Verdichtung. Die Zeichnungen von Christine Leins, in: Christine Leins. Arbeiten auf Papier (Publikation zur Ausstellung im Saarländischen Künstlerhaus Saarbrücken), Saarbrücken 2008, p. 5
3) Opel a. a. O. 8
4) Auch mag die Reflexion von Heideggers „Geviert bei der Entstehung dieser Form eine Rolle gespielt haben.
5) Francis Ponge 1933, zit. nach Kristian Sotriffer: Max Weiler. Strichwelten – Zeichnungen aus sechzig Jahren, Salzburg und Wien 1989, p. 9.
6) Opel a. a. O. 6
7) Christine Leins im Interview, das Helen Adkins anläßlich der im KunstBüroBerlin gezeigten Personalausstellung Das Licht kämmen – Arbeiten auf Papier im Juni 2008 mit der Künstlerin geführt hat.
8) Christine Leins, Dinge, in: Kat. Saarbrücken 2008 (wie Anm. 2), p. 27


© Dr. Wolfram Morath-Vogel (2011)

Christine Leins
"Seltsam Zartes" 
Prof. Gerold Kaiser



Dieser Titel, "Seltsam Zartes", den die Malerin ihrer Ausstellung mit auf den Weg gab, macht ihr Anliegen deutlich, etwas zu gestalten, was sich der Darstellung entzieht. Dieser Titel führt direkt ins Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit: der Versuch, das Nichtdarstellbare darzustellen.

Was ist aber nun dieses Nichtdarstellbare? Diese Frage lässt sich nur durch eine genaue Betrachtung der Arbeiten beantworten.

Wir sehen zunächst relativ kleine, geometrische Farbformen auf meist großen, leeren Papierflächen. Die Farben haben ein vibrierendes Eigenleben und lösen die strengen geometrischen Formen auf. Ein Zeichen, dass es hier hauptsächlich um Farbgestaltung geht. Immer wenn eine Farbgestaltung im Vordergrund steht, muss eine Form gefunden werden, die dienende Funktion hat, d.h., die Form darf nicht kompliziert oder gar gegenständlich sein. Deshalb die geometrischen Grundformen Quadrat, Rechteck, Kreis, Oval. aber die Farbe ordnet sich auch diesen Grundformen nicht unter, denn sie löst die Begrenzungen durch fließende Übergänge auf. Die Formen werden dadurch leicht verzogen, bekommen Schieflage, werden instabil und beginnen zu schweben.

Die Verwandlung der Formen in gedämpft leuchtende Farbkörper ist die konsequente Folge dieser Malerei. Dazu benutzt die Malerin die Punktlasurtechnik. Zu Aquarelltechnik werden farbige Punktsaaten so oft übereinander gelegt, bis der entsprechende Sättigungsgrad der Farbe erreicht ist. Diese überaus feine Punktstruktur garantiert eine aufgebrochene Oberfläche, die sich mit den Tiefenfarben der Lasuren verbindet.

Die Künstlerin arbeitet mit sorgfältig abgestuften, transparenten Farben, oft auch mit grauen Farbtönen. Sie vermag selbst diese neutrale Farbe zum Leuchten zu bringen. Es fällt auf, dass dieses Leuchten gedämpft ist. Es ist wie ein mehrschichtiger Geigenton, der aus dem Nichts entsteht, sich bis zum piano und mezzoforte entwickelt und dann wieder leiser wird und verklingt.

Die Virtuosität dieser Malerei lässt sich besonders gut am Plakat erkennen. Hier wurde das Original (7,5 x 7,5 cm) 25-fach (auf 35 x 35 cm) vergrößert. Selbst bei dieser Vergrößerung bleibt die ausgewogene Dichte der Farbstruktur erhalten. Diese handwerkliche Präzision verleiht den Bildern ihren milden Glanz. Das Ausgangsmaterial, Aquarellfarben und Papier, wird verwandelt, eine künstlerische Haltung wird formal und farbig objektiviert, d.h., nimmt Gestalt an.

Ein überaus wichtiges Gestaltungselement ist die weiße, manchmal auch farbig getönte Oberfläche des Papiers, denn diese Fläche ist der umgebende, sich nach allen Seiten ausdehnende Raum. Es ist ein leerer Raum, der aber im buddhistischen Sinne alle kreativen und gestalterischen Kräfte in sich birgt.

Die Farbkörper entstehen und entwickeln sich als Kraftzentren aus dieser Leere. Deshalb das eigenartige Verhältnis von Farbform zur Größe der Gesamtpapierfläche. Meist ist die Farbform mittig gesetzt, oft asymmetrisch im unteren Drittel des Blatts. Immer aber so, dass die Farben ausschwingen können, dass sich Verdichtung und Auflösung frei entfalten können.

Die Spannweite der Ausdrucksmöglichkeiten ist enorm. Sie reicht von prägnanten grauen quadratischen Farbkörpern mit schnellen Farbübergängen, über entsprechende rot-grün- und blaufarbige Varianten bis zu gelben oder blauen Zentren auf gelblich oder blau getöntem Grund, die sich der monochromen Malerei annähern. In allen Blättern ist das Potential der leeren Fläche bzw. des leeren Raumes spürbar vorhanden. Das "Seltsam Zarte" liegt hierin verborgen. Die Künstlerin versucht in immer neuen Anläufen dies sichtbar zu machen.

Besonders deutlich ist dies auch bei den "Kammzeichen" zu sehen. Der Begriff ist etwas irreführend, denn die Materialität des Doppelkamms ist völlig aufgelöst, ja in Bezug auf das Objekt surreal verfremdet.  Es sind ebenfalls Farbkörper, aber Farbkörper mit Tastfransen. Sie bestehen nicht aus durchgezogenen Linien, sondern aus Punktreihen, die sich zu weichen, organischen Tentakeln verbinden. Diese scheinen den umgebenden Raum zu erkunden. Sie suggerieren deshalb auch Bewegung im Raum.

In einem Interview bekennt sich die Künstlerin zu Agnes Martin, einer amerikanischen Künstlerin, die jahrelang ihre hellgrau getönten großformatigen Leinwände mit parallelen, gleichbleibenden feinen Bleistiftstrichen linierte. Das Konzept: den leeren Raum strukturieren, ohne ihn zu zerstören.  Diese Empfindsamkeit ist in allen Arbeiten dieser Ausstellung gegenwärtig. Das Papier ist nicht der Bildträger, denn es gibt kein Bild auf einem Bildgrund. Im Gegenteil, der Bildgrund ist die Hauptsache des Bildes. Der Bildgrund ist das konstitutive Element der Arbeit, das Bild wächst aus dem Bildgrund heraus, es ist mit dem Bildgrund verwoben, also Teil der Struktur des Farbkörpers.

"Seltsam Zartes" und das Nichtdarstellbare gehören zusammen, denn die vollkommene Leere lässt sich nur in Annäherungen darstellen, z.B. durch raumdurchlässige Formgebung, durch Transparenz, Auflösung von Farben, Linien und Flächen, und durch Farbzentren, die aus der Leere hervortreten.  Die Intensität mit der die Künstlerin diese Annäherungen gestalterisch erarbeitet, bürgt für die herausragende Qualität ihrer Arbeiten.


© Prof. Gerold Kaiser (2009)

Reduktion und Verdichtung.
Die Zeichnungen von Christine Leins
Angela Maria Opel



“Der Punkt ist eine kleine Welt” schrieb Wassily Kandinsky 1926 in Punkt und Linie zu Fläche. Der Punkt, erstes Grundelement alles Gezeichneten, ist bestimmendes Form- und Stilelement in den Zeichnungen von Christine Leins seit Beginn ihres künstlerischen Schaffens.

Der Punkt ist die äußerste Reduktion von Linie und Fläche. Wie groß aber ist das Variationspotential einer reduzierten Motiv- und Farbpalette, einer Reduktion von Raum und Technik? Weitaus größer als das, was Begriffe wie ‚reduziert’, ‚minimal’ oder ‚abstrakt’ gemeinhin suggerieren. Das beweisen augenfällig die Arbeiten von Christine Leins, in denen sie seit einigen Jahren einen konsequenten Weg der Reduktion geht: thematisch-motivisch, technisch, räumlich. Mit Reduktion - das haben Künstler der Moderne und des Minimalismus immer wieder bewiesen - ist in den meisten Fällen auch eine Verdichtung von Motiven, Techniken, aber auch Aussagen verbunden, und auch das zeigen die Arbeiten von Christine Leins in ihrem Zusammenspiel von Motiv und Technik in einer ganz eigenen Qualität und Intensität.

Bereits während ihres Studiums der Freien Bildenden Kunst und der Philosophie in Mainz hat sie sich auf das Medium der Zeichnung spezialisiert. 1992 entstanden erste Pinselzeichnungen, zunächst Naturstudien von Früchten, Insekten, Muscheln. Arbeiten, die die Strukturen der dargestellten Oberflächen, z. B. von Muscheln, entweder in stilisierten, grob geschrafften, additiv gesetzten Einzelformen darstellten oder die Objekte in minutiöser Punktmanier stilisiert abbildeten. Der Punkt als Grundelement bildete die Linien und Flächen, blieb dabei aber immer in seinem Punktcharakter erhalten: bewegungslos, richtungslos, zeitlos. Der Punkt als Zeichenelement ist in sich ruhend. Für ihr gesamtes Werk bestimmend wurde die Technik der Punktlasur, in der unzählige übereinander gelagerte Schichten transparenter Punkte die Form konstituieren. Die Maltechnik der Lasur, das Übereinanderlegen verschiedener dünner Malschichten, verbindet sie mit dem Aufbrechen der einzelnen Malschichten in separate Punkte, die in der optischen Gesamtschau dann wieder zu einer ungemein lebendigen und vibrierenden Fläche in einer ruhigen Grundform werden. Damit verschränkt sie die pointilistische Zeichenmanier, wie man sie z. B. von Seurats Arbeiten in Conté-Stift kennt, mit einer dem Pointilismus fremden lasierenden Malweise.

Mit dem durch diese Technik extrem verlangsamten künstlerischen Prozess bringt sie eines der grundlegenden Themen ihrer künstlerischen Arbeit zum Ausdruck: die Stille der Dinge, die Darstellung des In-sich-Ruhens von Objekten und damit auch des In-sich-Ruhens von Welt. Schon bei diesen frühen Arbeiten ent-stand durch das Punktieren der Eindruck von Unschärfe, ein leichter Sfumato-Effekt, ein Schleier, der sich über die Dinge legt und der die Stiliserung von Form und Farbe spannungsreich verstärkte.
Die „Genauigkeit des Sehens und die Selbstzurücknahme vor dem Objekt“ sind von Anfang an wichtige Bedingungen ihres künstlerischen Werkprozesses.

Die meisten ihrer Motive waren schon zu dieser Zeit als Serien angelegt: Sie zeigen Objekte, die aus verschiedenen Blickwinkeln oder immer kleineren Ausschnitten – ähnlich einem photographischen close-up - erfasst wurden.

Die Studien von toten, zerfallenden Insektenkörpern brachten sie zum Genre des Stillebens, meist mit einigen wenigen Objekten, das über Jahre dominantes Motiv in ihrem Œuvre blieb. In diesen wird die Körnigkeit bzw. Unschärfe ein Mittel optischer Distanzierung bei gleichzeitig sehr großen, nahsichtigen Bildausschnitten. Obwohl die Früchte, Gläser und Karaffen zum Greifen nah erscheinen, man das Spiel des Lichtes auf ihren Oberflächen sieht, entziehen sie sich durch ihre Unschärfe. Die optischen Irritationen trieb Leins über malerische Reduktion noch weiter, indem sie Objekte nur noch als grob gepunktete Konturen mit wenigen Binnenlinien definierte.

2004 verläßt Christine Leins den figurativen Motivbereich und experimentiert mit der geometrischen Form. Es entstehen kleine, exakt abgegrenzte Einzelformen in Punktlasur, meist rechteckig, rund oder oval, in umgebenden, tonal abgesetzten großen Farbfeldern oder Farbauren, die an den Rändern z. T. in das Weiß des Blattes ausfransen oder verlaufen. Die gepunkteten Schichten, die die Form konstituieren, sind oft aus verschiedenen Tönen oder Farben zusammengesetzt, so dass in den Farbflächen äußerst bewegte Strukturen und kontrastive Farbeffekte entstehen. Diese Farbkontraste, die sich in einer umgebenden Großform gegenläufig von innen nach außen oder umgekehrt verdichten, lassen Assoziationen von Postiv-Negativ-Strukturen entstehen. Ebenso wird Form variiert, besonders durch verschiedenste Positionierungen der Formen auf dem Blatt und die Paarungen von Formen. Leins variiert die Formstrukturen, tariert die Größe der Form im Gesamten des Blattes ebenso aus wie auch den Ort der Form oder die Dichte der Farbe.

Exzentrische Positionierungen von Kleinformen in Großformen oder im Blattraum selber bauen Spannung auf, suggerieren die Labilität und Vergänglichkeit der Situation. Zentral auf dem Blatt verortete Motive erscheinen im Gegensatz dazu als Ausdruck von Ruhe und perfekter formaler, räumlicher und kompositorischer Balance.

Die aktuellen Arbeiten führen diese Ansätze weiter. Reduziert auf die Formen von Quadrat und Oval und eine auf Blau, Grau und Rotbraun begrenzte Palette, entwickelt Christine Leins die Darstellung während des Arbeitsprozesses durch ständiges Drehen des Blattes. Der gesamte Arbeitsprozess erhält dabei Strukturen des Meditativen. Zunehmende Monochromisierung, die Reduktion der Farbe bis zum „Verschwinden“ wird zunehmend dominantes Stilmittel. Wesentliche kompositorische und stilistische Elemente sind neben dem Licht die mit der Technik der Punktlasur zusammenhängenden Aspekte von Schichtung, Verdichtung und Transparenz. Durch den spezifischen Arbeitsprozess entstehen die Verdichtungen mal in der Mitte der Form, mal an den Rändern, mal als zarte Binnengrate. Damit verändern sich innerhalb ihres Werkes auch die Bedeutungen von Tiefe und Raum, beides noch vorhanden aber in anderer minutiöserer und subtilerer Qualität. Die Dichte der Punkte erzeugt Dunkelheit, Schatten und die Suggestion von Nähe, die aufgelockert gesetzten Punkte Licht, Helligkeit und Ferne. Mit diesen aktuellen Arbeiten verändert sich auch über die Verdichtung oder Transparenz der Formen und Flächen der Umgang mit Licht: es ist nicht mehr die von außen die Objekte bescheinende Kraft, sondern eine inhärente Form- (und Farb-) qualität geworden.

Die Arbeiten von Christine Leins erinnern auf den ersten Blick vielleicht an Konkrete Kunst und Op-Art, sind dabei aber weniger technisch in der Herangehensweise und im Ergebnis. Die Linien, die sich innerhalb einer Struktur ergeben und manchmal technisch und kompositorisch exakt wirken, entstehen unbeabsichtigt im und durch den spezifischen Charakter des Werkprozesses. Entfernte Verwandtschaft lässt sich eher bei den Stilleben Antonio Calderaras oder seinen ‚Spazio luce’-Arbeiten festmachen.

Seit 2007 arbeitet Leins nicht mehr mit der extrem wässrigen Aquarellfarbe, sondern im Medium von Tusche und Bister und mit der Schnepfenfeder, einer vor allem aus der mittelalterlichen Buchmalerei bekannten Technik. Da man bei der Schnepfenfeder als Malerfeder nicht mit dem Kiel - wie sonst bei Schreibfedern -, sondern mit der äußerst feinen Federspitze malt, sind extrem feine Striche und Punkte möglich, weshalb die mittelalterlichen Miniaturisten sie besonders für kleinste Buchstaben verwandten.

Je nachdem, wie viele dieser feinen Punktschichten übereinander liegen, erscheint die Form mal wie oberflächlich gespritzt - wobei noch viel des Papiergrundes durchscheint - mal dicht und tief.

Kontraste entstehen zwischen der vereinzelten Form, der Dichte ihrer Punktlagen und der Weite des Blattes, bei dem zunehmend auch die Büttenränder unbeschnitten stehen bleiben. Sie überträgt die schon 2005 erscheinenden wattigen Punkte, sich auflösende Formkonturen und ausfransende Ränder nun in das Medium der Tuschezeichnung. Die Konturen erscheinen dabei mal labil, mal im Umraum des Papiergrundes gefestigt und in sich ruhend. Mal entstehen tonale Variationen, mal kontrastiv gesetzte Farbvernetzungen in Rotbraun und Blau.

Die Verdichtungen von Form und Farbe entstehen nicht nur in den Zentren der Formen, sondern ebenso in linearen Binnenstrukturen oder an den Peripherien des Motivs. Die Kontur erscheint dabei sowohl als eine in Auflösung begriffene Außengrenze als auch als Suggestion von Raum und Tiefe durch eine Verdichtung zum Rand hin.

In den neuesten Arbeiten schließlich lotet sie mit dem Motiv des Kugelberges das ordnende Potential der Mathematik, bzw. der Zahl aus: nicht als Aufhäufung von Formen, sondern als eine als Gliederung verstandene Proportionsstudie von Kreiselementen.
Während das Präsentieren und Distanzieren der Motive in den frühen Arbeiten einen provokatorischen oder irritativen Aspekt im Verhältnis von Kunstwerk und Betrachter betonte, sind die zentrierten Quadratmotive auf den weiten umgebenden Papierflächen in den neuesten Arbeiten von Christine Leins in ihrer Interaktion verhaltener und meditativer. Sie sind ein Mittel der Versenkung in die Tiefe des Raumes, in das Changement der verschieden dichten Farbflächen, in ihre Suggestion taktiler Qualitäten.

© Dr. Angela Maria Opel (2008)

Das Licht kämmen – Arbeiten auf Papier
Christine Leins im Interview mit Helen Adkins



H.A: Sie haben mit wissenschaftlichen Pinselzeichnungen begonnen. Dabei berufen Sie sich auf Cornelia Hesse-Honegger, die sich seit dem Atomunfall in Tschernobyl 1986 mit morphologischen Veränderungen von Insekten beschäftigte. Sie selbst zeichneten mit zerfallenen Insektenkörpern das vermeintlich Hässliche, das zu Ihrem Thema wurde. Können Sie das präzisieren?

C.L.: Cornelia Hesse-Honegger verdanke ich eine solide Ausbildung in gegenständlicher Zeichnung. In einem Pilotversuch der Fakultäten Kunst und Biologie an der Uni Mainz lehrte sie wissenschaftliche Illustration. Im Vordergrund stand die Objektivität der Zeichnung. Wissenschaftlich sind die von mir gewählten Objekte irrelevant. Die zerfallenen Fliegen- und Wespenkörper fand ich auf vernachlässigten Fensterbänken des Instituts. Sie faszinierten mich in ihrer fragmentarischen Form, Farbigkeit und Räumlichkeit. Was ich da zufällig als Schmutz auflas, erwies sich für mich unter dem Binokular nicht mehr als Hässlichkeit, es waren vielmehr faszinierende tote Wesen. Im Rückblick weiß ich, dass ich gerade diese „Hüllen“ wählte, weil sie meine Empfindungen in einer schwierigen Lebensphase widerzuspiegeln vermochten.

Wie ist die Verbindung von toten Insekten, Stilleben sowie abstrakten Lichtkörpern?

Die Torsi, meist wählte ich Insekten, denen Gliedmaßen und Kopf fehlten, begriff ich bereits als Stilleben, weniger als Tierdarstellungen. Gegen Ende dieser Phase treten die Körper in Bezug zum Raum. Sie spiegeln sich in Glasräumen, in die sie von mir verbracht wurden. Als sich meine persönliche Lebenssituation aufhellte, fühlte ich mich zu neuen, in sich ruhenden, geschlossenen Objekten hingezogen, die in einen räumlichen Bezug zueinander treten konnten. Ich fand sie in klassischen Stillebenmotiven wie Früchten und Gläsern, Dingen des täglichen Umgangs, denen man üblicherweise wenig Beachtung schenkt.
Formal rückten Aspekte wie Licht, Raum und Komposition in den Vordergrund. Die Stille, welche die Dinge ausstrahlen, ihr In-sich-Ruhen wird evident. Die Stilleben zeigen friedfertige Utopien, kleine idealische Welten. Ich empfinde sie als sehr sanfte, „weibliche“ Bilder, die für manchen Betrachter schräg in die Lebenswelt hineinstehen mögen. Einerseits zum Greifen nah, wirken die Objekte durch einen pelzigen Schleier entrückt. Ihr Schweben nimmt vieles von dem vorweg, was später meine abstrakten Bilder ausmacht.
Die Phase der Stilleben schließt ungewollt mit Zeichnungen, in denen sich die Dinge wiederum spiegeln. Dann führte das Zeichnen in eine Krise. Das Zeichnen versagte sich mir, ich konnte über mehrere Monate überhaupt nicht mehr arbeiten, fühlte einen inneren Protest gegen die Stilleben.
Es war für mich ein Reifeprozess zu erkennen, dass ich die Dinge auch als Träger, als Anlass genutzt hatte, um mich mit dem zeichnerisch beschäftigen zu können, was mich eigentlich interessiert: Struktur, Licht, Schichtung und Verdichtung, Transparenz. So lag es nahe, auf den Gegenstand zu verzichten.
Als das Bedürfnis zu zeichnen wieder zurückkehrte, fand ich zur Punktlasur-Technik zurück, aber die Zeichnung war nun vom Gegenstand befreit. Die Punktlasur ist die Klammer, der rote Faden, der sämtliche Werkphasen von 1992 bis 2008 durchzieht und miteinander verbindet. Diese Technik entwickelte ich aus der wissenschaftlichen Zeichnung. Statt Fläche, Schraffur und Punkt reduzierte ich mein Zeichnen auf die Überlagerung und Verdichtung von Punkten. Der Punkt bedeutet mir die Möglichkeit, das Blatt zeichnerisch behutsam und vorsichtig zu berühren. Dabei wachsen die Punkte organisch zu strukturierten Flächen heran.

Während des Studiums interessierten Sie sich für Heidegger und Leibniz: Frage nach der Technik und Theodizee.

Vor allem setzte ich mich mit Heidegger und Nietzsche auseinander. Heidegger`s Überlegungen zu Fragen der Technik und der Uneigentlichkeit des menschlichen Lebens, die sie als Gefahr in sich trägt, beschäftigt mich. Hingegen ist mir Leibniz` Antwort zum Thema Theodizee als der Frage nach der Allmacht Gottes angesichts der Unvollkommenheit der Welt fremd. Seine Sicht der Welt als der bestmöglichen ist mir Provokation. Hier halte ich den Ausspruch von Nelly Sachs entgegen, man solle auf das Jammertal der Welt seine Planken legen und darüber balancieren mit der Prosa, mit der Kunst.

Sehen Sie Ihre Arbeit im Grenzbereich zwischen Kunst und Philosophie?

Meine Zeichnungen transportieren vordergründig keine philosophischen Botschaften. Ich zeichne und ich denke, das ist ein Miteinander. Gedanken entstehen während des Zeichnens, sie kreisen um das Zeichnen und dieses wiederum zeigt den Gedanken Wege auf.

Was bedeutet Langsamkeit für Sie?

„Wenn wir die Langsamkeit und das Leise nicht mehr kennen, begreifen wir nichts von dem Element, in dem wir schweben“ (Goethe). Dem Element, in dem wir schweben, dem Leben, der Existenz, möchte ich zeichnend näherkommen. Ist das Zeichnen nicht auch Schweben in einem Element? Vermögen wir nicht anhand von Zeichnungen vergangener Zeiten zu erkennen, in welchen Elementen die Menschen „schwebten“?

Drückt ein langsam entstandenes Bild etwas Anderes aus? Sagt das was Anderes über das Abgebildete?

In einem langsam entstandenen Bild kommt eine andere Haltung der Welt gegenüber zum Ausdruck. Die Langsamkeit beeinflusst den Stil. Und ist der Stil nicht immer schon für sich allein die Weise, die Dinge zu sehen?

Ist Langsamkeit für Sie eine Notwendigkeit, um die Welt zu verstehen?

Um das innere Gleichgewicht zu bewahren und sich der Eigentlichkeit zuwenden zu können, braucht es das Sich-Zeit-Lassen. Ich möchte den immer schnelleren Wahrnehmungen und Sinneseindrücken etwas Anderes entgegensetzen. „Ich bin überzeugt, dass wir viel zu wenig langsam sind“ (R. Walser).

Wieso werden Sie 2004, nach 12 Jahren, abstrakt? Sind abstrakte Dinge immer still? Sind sie tot? Leise?

„Es gibt nichts Abstrakteres als die Wirklichkeit“ (Morandi). Dinge, unsere stillen Begleiter, bestimmen die Bezüge, in denen wir leben und konstituieren unsere Welt, auch wenn uns dies meist nicht bewusst ist. Um mit Heidegger´s Begriff des Gevierts zu sprechen, womit er das Wesen der Dinge zu denken versucht: Dinge verbinden den Menschen mit dem Himmel, der Erde, den Göttern und seiner eigenen Sterblichkeit. Das Wesen der Dinge ist mir ein phantastisches Rätsel.

Was bestimmt die abstrakte Form, das Oval, Quadrat?

Josef Albers gibt zum Quadrat den Hinweis, es sei zurückhaltend, trete als eigenständige Form in den Hintergrund und wirke dennoch direkt und unmittelbar. Das Oval, das ich aus einem Quadrat und zwei halben Kreisen bilde, vermittelt das Moment des Schwebens.

Warum reicht eine ganz kleine Zeichnung auf einem großen Blatt?

Sie braucht schier die Weite und Leere ringsum in Anbetracht ihrer eigenen Verdichtung. Der Betrachter muss jedoch für sich entscheiden, ob ihn ein solches Blatt irritiert oder ob er darin eine Übereinstimmung mit seiner eigenen Empfindung finden kann. Daraufhin wird sich entscheiden, ob ihn eine Arbeit anspricht oder nicht.

Sind die Stilleben auch ganz klein auf einem großen Blatt?

Es gibt einzelne, sehr kleine, nur wenige Zentimeter große Stilleben auf größeren Blättern. Ich meine, dass sie die abstrakten Arbeiten entscheidend vorbereitet haben.

Sie zeichneten Gruppen mit je 4 Quadraten. Was entsteht dabei? Ist der serielle Gedanke wichtig?

Die einfarbigen Gruppen bestehen jeweils aus 4 Blättern, auf denen ein Quadrat mittig angeordnet ist. Ich stellte die Frage, was ich in der Wiederholung finden würde. Es sind subtile Variationen eines Formtypes, die sich nur durch geringe Veränderung in der Verlaufsform der Ränder und in der Struktur ergeben.

Was bestimmt die Farbe?

Über die Jahre hinweg hat sich meine Farbpalette auf wenige Töne, vor allem Erdfarben, Grau und wenige Blautöne, reduziert. Meist sind es Farben, die aus unterschiedlichen Tönen gebildet scheinen. So schwingen in Payne´s Grau Blau und Rot mit oder ein Caput Mortuum schimmert violett und bläulich.

Selbst in geometrischer Form empfinde ich die Arbeiten als lebendig, organisch. Ist das wichtig?

Der organische Eindruck ist wesentlich. Gleichzeitig liegt eine geometrische Form als geistiges Gerüst, als ein Anfang der jeweiligen Zeichnung, zugrunde. Die lebendige Zeichnung darf dieses Gerüst verändern, übertreten oder auch dahinter zurückbleiben.

Ihre Bilder haben eine magische Ausstrahlung. Sind sie Botschaftsträger?

Ich lege keine bewussten Botschaften in die Zeichnungen. Mir selbst sind die Zeichnungen oft verrätselt und erscheinen im nachhinein manchmal als Träger versteckter Botschaften aus dem Unbewussten. Ich fordere ja in dieser sehr asketischen Form der Zeichnung, im immer gleichen meditativen Tun, das Zeichnen heraus. Ich muss dabei warten können, der Zeichnung ihre Zeit lassen, um die Gestalt zu finden, die sie anstrebt. Die Zeichnung soll mir etwas sagen und manchmal erhalte ich durch sie Hinweise, gezeichnet oder in Form von Gedanken, die während des Zeichnens aufkommen. Im Zeichnen befrage ich, suche ich und warte auf Antworten.

Wie kam die Idee des Kamms? Hat das etwas mit Ritual zu tun?

Die Kammzeichnungen, die sich weiter in den Raum vortasten, sind inspiriert von antiken Doppelkämmen. Deren archaische Form habe ich intuitiv aufgegriffen. Der Kamm – als Metapher – gibt möglicherweise Auskunft darüber, was ich beim Zeichnen tue – der Begriff des Rituals gefällt mir in diesem Zusammenhang gut: Das Kämmen als rituelle, auch meditative Handlung, die das Vorgefundene ordnet, ihm eine Struktur gibt und gleichzeitig sein Eigenleben bewahrt.
Im Zeichnen ordne, kämme ich eine Vielzahl unterschiedlicher Helligkeitswerte zu transparenten lichthaltigen Strukturen, Punkt für Punkt, Schicht für Schicht. Dieser äußeren Handlung verdankt sich ein inneres Gleichgewicht, an dem der Betrachter partizipieren kann.

Während manche Künstler heute ausdrücklich mit nicht-künstlerischen Mitteln arbeiten - Medikamenten, Computertechniken, Kunststoffen etc. - experimentieren Sie mit altmeisterlichen Farben und Techniken. Was ist für Sie die Anziehung solcher Arbeitsmittel?

Ich arbeite mit Arbeitsmitteln, die über Jahrhunderte hinweg Malern und Zeichnern genügten. Das Zeichnen schätze ich als sehr elementar, unmittelbar und authentisch. Ich liebe solche einfachen Geräte wie den Pinsel oder die Feder, ein paar Farbnäpfchen und Papier. Sie lassen mich weitgehend frei und unabhängig sein von äußeren Randbedingungen.

Seit zwei Jahren stellen Sie ihre Arbeiten in öffentlichen Sammlungen vor.

Mehr als 10 Jahre arbeitete ich zurückgezogen, ohne meine Zeichnungen auszustellen und zu zeigen. Weil ich der Auffassung war, dass ich mich unabhängig entwickeln will, verwahrte ich die entstehenden Blätter in der Schublade. 2006, nachdem der Schritt in die Abstraktion getan war, wandte ich mich an Graphische Sammlungen und Museen.

Die Tuschezeichnungen werden größer und teilweise zu architektonischen Zeichnungen. Wie kommt diese Entwicklung?

Mit den Tuschen kommen neue Momente in die Zeichnungen. Die zuvor dichten Strukturen öffnen sich, werden kristalliner, klarer. Auch wende ich mich nun, da sich die Farbe noch weiter zurückzieht, wieder komplexeren Kompositionen zu.


© Dr. Helen Adkins & Christine Leins (2008)